Standpunkt

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Die Ambivalenz des Scheiterns

Deutschland tut sich schwer mit der digitalen Transformation. Mittelfristig ist das nicht schlimm, langfristig aber schon, denn die Stimmung wird schlechter.

Bild: Shutterstock / Andrii Zastrozhnov

«Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist.» heisst es bei Friedrich Torberg. Das Nicht-Vorwärtskommen Deutschlands bei der digitalen Transformation ist so ein Noch-Glück-Fall. Man stelle sich vor, die deutsche Verwaltung würde von China lernen und das Digitalisierungspotenzial erkennen. Die Belastung der Bevölkerung mit Datenlieferaufgaben würde abnehmen, aber das Ergebnis wäre – voraussichtlich – ein Wachsen der staatlichen Kontrolle. Denn das Once-Only-Prinzip (Tallinn Declaration) kann man einwohnerfreundlich oder kontrollorientiert umsetzen.

Das Wunder der Menschheit ist: Es gab immer wieder eine Wende in der Nutzung neuer Technologien – hin zu mehr Nutzen für die ganze Gesellschaft!

Historisch betrachtet hat technologischer Fortschritt häufig zu schlechteren Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung geführt. Innovationen bedeuteten meist mehr Arbeit und weniger zu essen oder Arbeitsverlust und Verhungern. Bessere Technologien führten entweder zu weniger Arbeitskräftebedarf oder ermöglichten eine produktivere menschliche Arbeit. Doch auch wenn letzteres eintrat und zu Arbeitskräftemangel führte, hatte dieser selten höhere Löhne zur Folge. Stattdessen wuchs meist die Unterdrückung durch die Mächtigen. Die Allgemeinheit profitierte vom Fortschritt nur in Form von fantastischen Bauten, die von den Mächtigen errichtet wurden. Und wenn doch der Arbeitskräftemangel diese zwang, mehr Lohn zu zahlen, so wurde dies als unnatürlich gebrandmarkt. Arbeitsleistung dürfe nie so viel Wert sein wie eine herrschaftliche Stellung, hieß es.

Man mag hier einwenden, dass die digitalen sozialen Medien heute abgehängten und randständigen Gruppen helfen, Politik mitzugestalten. Diese Politik zielt aber oft auf das (Zer-)Stören der demokratischen Ordnung. Unausgesprochen im Raum steht das Versprechen von Potentaten: Die Unterstützer der zukünftigen Ordnung bleiben zwar Knechte, aber dafür werde andere zu Sklaven. Das erinnert an die Städte des alten Mesopotamiens: Man musste in der Stadt täglich doppelt so viel arbeiten wie ausserhalb der Stadt und starb viel früher, dafür gab es Sklaven, an denen die neuen Methoden der Viehzucht ausprobiert wurden.

Das Wunder der Menschheit aber ist: Es gab immer wieder eine Wende in der Nutzung neuer Technologien – hin zu mehr Nutzen für die ganze Gesellschaft! Diese menschenfreundliche Nutzung setzte sich durch, weil sie den Fortschritt beschleunigte. Beteiligung aller am Nutzen war langfristig ökonomisch erfolgreicher als Unterdrückung. Die Frage ist deshalb heute: Wie können wir digitale Technologien so einsetzen, dass alle Teile der Gesellschaft davon profitieren und sich ein Gefühl der Hoffnung auf Fortschritt ausbreitet?

Wir benötigen digitale Technologien, die menschliche Arbeit produktiver machen – und nicht solche, die uns überwachen, radikalisieren oder auf den Status als Konsumenten reduzieren. Dazu braucht es eine Neuorientierung: Erfinder und Unternehmer müssen sich auf die Verbesserung der professionellen Praxis konzentrieren, die öffentliche Verwaltung muss sich als Unterstützerin ihrer Klienten und als Problemlöserin verstehen. Das ist viel verlangt, aber es geht um unsere Demokratie!

Reinhard Riedl

ist freier Autor der «Computerworld» und von «com! professional».

Reinhard Riedl beschäftigt sich mit der menschenzentrierten Entwicklung digitaler Lösungen in verschiedenen Sektoren: Gesundheitswesen, Sport, Kunst, Stadt- und Regionalentwicklung, Verwaltung, Landwirtschaft und Verkehr. Er ist Herausgeber des Wissenschaftsblogs «Societybyte» der Berner Fachhochschule.