Prognosen

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Metaverse 2024: Chance auf das Comeback?

Im Schatten des KI-Booms könnte eine Technologie 2024 still und leise an Verbreitung gewinnen, die 2023 ähnlich gehypt worden war, inzwischen aber in der Öffentlichkeit fast nur noch als Milliardengrab für Mark Zuckerberg Schlagzeilen macht. Nach Angaben von AltIndex.com ist der fünfjährige Betriebsverlust der Meta-Einheit Reality Labs, die Technologien fürs Metaversum entwickelt, auf fast 50 Milliarden Dollar gestiegen. Doch Abgesänge könnten verfrüht sein.

Bild: Shutterstock / thinkhubstudio

Laut einer Prognose von Statista soll der globale Metaverse-Markt in den nächsten zwei Jahren mehr als 1,1 Milliarden Menschen erreichen, bis zum Ende des Jahrzehnts sogar über 2,6 Milliarden. Ein konservativ gerechnetes Szenario kommt für 2030 auf eine Umsatzchance für Metaverse-Produkte und -Dienstleistungen von 1,91 Billionen US-Dollar. In der optimistischen Variante, in der 35 Prozent der digitalen Wirtschaft in das Metaverse wechseln, steigt dieser Wert auf 4,44 Billionen US-Dollar.

Metaverse: Winter oder Frühling?

In den Prognosen der Analysten und Unternehmen für 2024 kommt das Metaverse gelegentlich noch vor, wenn auch nicht immer expressis verbis. Bei dem einen oder anderen gilt die Kombination aus VR und AR aber sogar als einer der Top-Trends. So hebt der Report „Startup Tech Trends for Venture Clients 2024“ von 27pilots das immersive Internet auf der Basis von AR und VR als eine der Technologien hervor, die 2024 besonders hohes Potenzial für den Einsatz in Unternehmen haben – neben angewandter KI und erhöhter Konnektivität durch 5G und IoT: „Die Weiterentwicklung hin zu einem immersiven Internet auf Basis von Augmented und Virtual Reality schreitet in Unternehmen voran. AR wird stärker in unsere täglichen Aktivitäten integriert und die virtuelle Zusammenarbeit optimieren – und in einer Vielzahl von Szenarien zum Einsatz kommen, ob für interaktive 3D-Modelle, in der Fertigung, für freihändige Arbeitsanweisungen oder für interaktives Storytelling,“ prognostiziert 27pilots-CEO und Deloitte-Partner Gregor Gimmy. 27pilots hilft Unternehmen wie Bosch, Holcim oder Siemens Energy dabei, ihre Innovationskraft durch Start-up-Lösungen mithilfe von Venture Clienting zu steigern.

Gregor Gimmy, CEO von 27pilots und Deloitte-Partner
„AR wird stärker in unsere täglichen Aktivitäten integriert und die virtuelle Zusammenarbeit optimieren – und in einer Vielzahl von Szenarien zum Einsatz kommen.“

Industrial Metaverse als Hoffnungsträger

Das größte Potenzial in nächster Zukunft wird im allgemeinen dem Industrial Metaverse attestiert. Zu den Optimisten gehört Andreas Dangl, Geschäftsführer von Fabasoft Approve, dem Anbieter des gleichnamigen cloudbasierten Dokumentenmanagement-Systems für die Industrie. Er verweist darauf, dass der VDMA darin nichts Geringeres sieht als den nächste Meilenstein der Digitalen Transformation im Maschinen- und Anlagenbau und eine Weiterentwicklung von Industrie 4.0. Das industrielle Metaverse soll den Einsatz von virtuellen und erweiterten Realitäten in der industriellen Produktion und Wartung ermöglichen, beispielsweise um Produktionsprozesse zu planen, zu optimieren oder zu simulieren, Prototypen virtuell entwickeln und Ressourcen entlang der Lieferkette einzusparen. Die technische Grundlage fürs Industrial Metaverse ist der Digitale Zwilling. Dieser benötigt wiederum eine große Menge an Daten, welche erzeugt, übertragen und ausgewertet werden muss. Dafür kommen Technologien wie Edge-Computing, Cloud-Computing, 5G-Netzwerke und Künstliche Intelligenz zum Einsatz.

Dangl nennt zwei Voraussetzungen für den Erfolg des Industrial Metaverse: Offenheit und Interoperabilität im Betrieb. Und er betont: Um Unternehmen ins Industrial Metaverse führen zu können, ist die vorherige Digitale Transformation im Unternehmen selbst maßgeblich – erst danach kann es zum Metaverse kommen. Denn: Nur mit den richtigen Daten ist die Nutzung des Industrial Metaverse möglich.

Skeptischer blickt Forrester auf das Industrial Metaverse. Schon für 2023 hatte es einen allgemeinen „Metaverse-Winter“ vorausgesagt. Der soll den Analysten zufolge nun auch auf Projekte in der Industrie übergreifen, wie es in den „Predictions 2024: Smart Manufacturing“ heißt, die unter der Leitung von Paul Miller, Vice President & Prinicipal Analyst, verfasst worden sind: „Über 75 Prozent der industriellen Metaverse-Projekte werden sich neu positionieren müssen, um den Metaverse-Winter zu überleben. Wir waren optimistischer bezüglich des industriellen Metaverse, das in der realen Welt verankert ist, aber nun wird auch hier ein Teil dieser Winterkälte spürbar.“

Überhaupt hinterfragt Miller die Aussagekraft des Begriffes, wenn er schreibt: „Industrielles Metaverse war eine Neubenennung einer Gruppe bestehender Technologien, die zunehmend unklug erscheint: Eine enge Verbindung mit dem Metaverse birgt das Risiko, zu einem Todesstoß für ansonsten beispielhafte industrielle Projekte zu werden. Um bestehende Budgets zu halten oder neue Investitionen im Jahr 2024 zu gewinnen, werden Technologieführer im Fertigungssektor aufhören, über das industrielle Metaverse zu sprechen und stattdessen wieder seine Bausteine betonen.“

Anstatt ihre Projekte mit dem Metaverse in Verbindung zu bringen, rät Forrester seinen Kunden, sich auf bewährte Technologien wie erweiterte Realität, das Internet der Dinge und digitale Zwillinge konzentrieren und hervorzuheben, wie diese die Ergebnisse für Kunden und Mitarbeiter sowohl getrennt als auch – zunehmend – gemeinsam verbessern.

Andreas Dangl, Entrepreneur und Geschäftsführer der Fabasoft Approve GmbH
„Um Unternehmen ins Industrial Metaverse führen zu können, ist die vorherige digitale Transformation im Unternehmen selbst maßgeblich – erst danach kann es zum Metaverse kommen.“
Paul Miller, Vice President & Prinicipal Analyst, Forrester
„Eine enge Verbindung mit dem Metaverse birgt das Risiko, zu einem Todesstoß für ansonsten beispielhafte industrielle Projekte zu werden.“

Boom fürs Spatial Computing

Auch Hans Elstner, Gründer und CEO von rooom, dem Entwickler einer All-In-One-Platfform für interaktive 3D-, AR- und VR-Reality-Lösungen, verwendet statt Metaverse lieber einen alternativen Begriff. Er prognostiziert für 2024 einen Aufschwung für das Spatial Computing. Den Begriff gebe es seit 20 Jahren, mit Apples Ankündigung des Mixed-Reality-Headsets Vision Pro in Juni 2023 habe er an Popularität gewonnen. Spatial Computing meint dabei nichts anderes als eine Kombination von Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality, welche die reale und digitale Welt verschmelzen lässt.

Nicht nur Apples Engagement trägt 2024 dazu bei, Spatial Computing präsenter zu machen. Vier Trends werden laut Elstner zum wachsenden Erfolg von Spatial Computing im Jahr 2024 beitragen:

  • Spatial Computing wrid von Unternehmen verstärkt als leistungsfähiges Schulungswerkzeug für berufliches Lernen und Weiterbilden eingesetzt. Im Fokus steht unter anderem die Schaffung von realistischen Lernszenarien, die in der physischen Welt schwer nachzustellen sind. Dies ermöglicht es den Lernenden, ihre Fähigkeiten in einer sicheren und kontrollierten Umgebung zu entwickeln –  zum Beispiel in Simulationen von komplexen Maschinen.
  • Verbesserte Tools und Plattformen senken die Einstiegshürden für Entwickler und Entwicklerinnen und erleichtern die Entwicklung von Spatial-Computing-Anwendungen auch ohne 3D-Modellierungs-Kenntnisse.
  • Gamification wird zu einem integralen Bestandteil von Spatial-Computing-Anwendungen, indem es nicht nur den Unterhaltungsfaktor steigert, sondern auch das Lernen und die Anwendung von Fähigkeiten fördert.
  • Ein weiterer bedeutender Anwendungsbereich von Spatial Computing im Jahr 2024 ist der Einzug in den E-Commerce. Spatial-Computing-Technologien werden genutzt, um ein ansprechenderes Einkaufserlebnis zu bieten. Vor allem AR-Anwendungen ermöglichen es Kund:innen, umfassendere Informationen über Produkte bequem von zu Hause aus zu erhalten.
  • Unternehmen erkennen die Notwendigkeit, verstärkt in Technologien zu investieren, die eine sichere Erfassung und Verarbeitung von Nutzerdaten in der virtuellen Welt gewährleisten, robuste Datenschutzrichtlinien werden entscheidend sein, um das Vertrauen der Nutzer zu gewinnen.

Hans Elstners Urteil lautet: „Die Trends im Spatial Computing für das Jahr 2024 markieren einen bedeutenden Meilenstein in der Entwicklung dieser Technologie. Der verstärkte Einsatz in der beruflichen Weiterbildung, die zunehmende Entwickler:innenfreundlichkeit, die Integration von Gamification und der Fokus auf Datensicherheit sind nicht nur technologische Fortschritte, sondern sie legen auch den Grundstein für eine umfassende Akzeptanz und Nutzung von Spatial Computing. Unternehmen, die diese Trends erkennen und proaktiv in ihre Geschäftsstrategien integrieren, werden nicht nur von den Effizienzgewinnen und Innovationsmöglichkeiten profitieren, sondern auch ihre Position als Vorreiter in einer zunehmend digitalisierten Welt stärken.

Hans Elstner, CEO, rooom
„Spatial Computing wird von Unternehmen verstärkt als leistungsfähiges Schulungswerkzeug für berufliches Lernen und Weiterbilden eingesetzt.“

Innovation der Lernkultur

Auch Professor Kyriakos Kouveliotis, Chief Academic Officer der Berlin School of Business and Innovation, betont das Potenzial des Metaverse für eine innovative Lernkultur. Ende Oktober 2023 hat die BSBI extra einen TEDx Talk am Berliner Campus zum Thema „Education in the Metaverse?” veranstaltet. Dazu schrieb Kouveliotis: „Die Bildung in unserer heutigen Welt oder auch im Metaverse ist wie ein Reisepass. Damit er nicht abläuft, muss er ständig aktualisiert werden. Die Tatsache, dass wir am Ende unserer eigenen TEDx-Veranstaltung „Education in the Metaverse?“ ein Fragezeichen anfügen, ist nicht zufällig. Als wir einen virtuellen Campus entworfen und in unsere Hochschulnormen integriert haben, wurde uns klar, dass wir auch Lernende sind. Es ist ein unbekanntes Terrain, voller Herausforderungen und Perspektiven. Unseren Studierenden eine alternative oder ergänzende neue Lernform anbieten zu können, erfüllt uns mit großer Zufriedenheit. Dennoch ist der Prozess ein offener, mit vielen Fragezeichen, die es noch zu klären gilt.“

Kouveliotis sieht Vorteile in vielen Anwendungsszenarien, die sich dem Lernen und Lehren durch das Metaverse bieten. Als Ideen nennt er zum Beispiel virtuelle Klassenräume und hybriden Unterricht, bei dem alle Lernenden mit Hilfe von VR-Technologie an einem immersiven Ort zusammenkommen. Oder auch Lehrkräfte, die als Avatare im Metaverse agieren, so dass veraltete Schulgebäude und fehlende Technik der Vergangenheit angehören. Auch dem Lehrermangel könne man entgegensteuern, indem man auf virtuelle Avatare zurückgreife und sich die Lehrkräfte ihren Arbeitsplatz selbst aussuchen können.
Kyriakos Kouveliotis, Berlin School of Business and Innovation
„Die Bildung in unserer heutigen Welt oder auch im Metaverse ist wie ein Reisepass. Damit er nicht abläuft, muss er ständig aktualisiert werden.“

Fazit & Ausblick

Den großen Durchbruch sagt dem Metaverse für 2024 niemand voraus. Doch gibt es Grund zu der Annahme, dass sich diese einst gehypte Technologie auf diversen Gebieten ihren Platz im Unternehmensalltag erobert. Das Spektrum der Vorteile ist einfach zu groß und reicht von digitalen Zwillingen in der Industrie über den Einsatz in der Medizin bis zum Schulungswerkzeug. Das einst befürchtete Monopol von Meta alias Facebook ist dabei nicht zu erwarten. Vielleicht kommt der Durchbruch ja, wenn das Metaverse mit der aktuellen Hype-Technologie KI zusammengebracht werden kann.

Ähnlich wie bei der Künstlichen Intelligenz dürften mit der breiteren Anwendung der Metaverse-Technologie allerdings auch Sicherheitsthemen stärker in den Fokus rücken. Oder wie es Martin Kuhlmann, VP Global Presales bei Omada, einem Anbieter von Lösungen und Dienstleistungen für das Identity- und Access-Management, formuliert: „Auch wenn das Metaversum noch mehr Vision als Realität ist, steht ein riesiges Wachstumspotenzial dahinter. Damit Unternehmen bei dieser Entwicklung mitwirken können oder daran teilhaben, gibt es wie immer einige Sicherheitsrisiken zu bedenken. Gerade die Einsatzmöglichkeit und Nutzung digitaler Identitäten stehen hier im Zeichen der Veränderung.“

Martin Kuhlmann, VP Global Presales, Omada
„Auch wenn das Metaversum noch mehr Vision als Realität ist, steht ein riesiges Wachstumspotenzial dahinter.“

Zu vorsichtigem Optimismus rät die IT-Beratung valantic. Das Metaverse, der Tech-Trend des Jahres 2022, sei zwar 2023 in den Hintergrund getreten. Generative Intelligenz und ChatGPT hätten ihm die Show gestohlen. Dabei habe das Metaverse durchaus einige überzeugende Argumente auf seiner Seite. Senior Consultant Fabian van Gelder resümiert: „Wir raten zu Vorsicht und kritischem Optimismus: Das Metaverse ist eher ein Langfrist-Trend über das Jahr 2024 hinaus."

Van Gelder sieht zwar durchaus schon nützliche Anwendungen und spannende Pilotprojekte auf dem Markt wie den digitalen Zwilling in der industriellen Entwicklung und AR-Apps für Wartungs- und Service-Techniker, räumt aber ein: „Überzeugende Business-Anwendungen, die Killer-Apps für Unternehmen, stehen bislang noch aus. Wie sich das Metaverse im Jahr 2024 entwickelt, wird von Fortschritten in den Bereichen Extended/ Augmented Reality, VR-Brillen mit hohem Tragekomfort und einer leistungsfähigen, gleichwohl aber kostensparenden Plattform-Infrastruktur abhängen.“

Martin van Gelder, Senior Consultant, Valantic
„Wir raten zu Vorsicht und kritischem Optimismus: Das Metaverse ist eher ein Langfrist-Trend über das Jahr 2024 hinaus."

Johann Scheuerer

Leitender Redakteur

Johann Scheuerer ist Leitender Redakteur der Schwesterzeitschriften com! professional (Deutschland) und Computerworld (Schweiz). Er beschäftigt sich seit den Anfängen des Internets mit allen Aspekten der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft.