Analyse
Höchste Zeit für eine Quantenstrategie
Quantencomputing wird die IT radikal verändern. Was nach Zukunftsmusik klingt, hat schon heute praktische Anwendungen. Der Nutzen von Quantencomputing wird greifbar.
Fast die Hälfte der Deutschen (44 Prozent) hat den Begriff Quantencomputer noch nie gehört, so eine Umfrage des Digitalverbands Bitkom. 38 Prozent haben zwar schon einmal davon gehört, wissen aber nicht, was damit gemeint ist. Nur jeder zehnte (12 Prozent) hat von Quantencomputern gehört UND kann erklären, was sich dahinter verbirgt. Dieser Anteil dürfte in nächster Zeit deutlich zunehmen, denn Quantencomputer bekommen praktischen Nutzen für Wirtschaft und Gesellschaft.
„Quantencomputing hat zuletzt große Fortschritte gemacht, in der breiten Öffentlichkeit ist das Thema aber oft noch gänzlich unbekannt“, konstatiert Natalia Stolyarchuk, Bereichsleiterin Future Computing & Microelectronics beim Bitkom e.V. Die Quantencomputer sind kein reines Forschungsobjekt mehr, die Ideen für Anwendungen werden konkret. Medikamentenforschung, Lieferkettenoptimierung oder Voraussagen von Finanzkrisen sieht sie als mögliche Einsatzfelder von Quantencomputing. „Quantentechnologien sind der nächste bedeutsame technologische Schritt, vergleichbar mit der Einführung von Computern in der Industrie“, betont Stolyarchuk.
„Quantentechnologien sind der nächste bedeutsame technologische Schritt, vergleichbar mit der Einführung von Computern in der Industrie.“
Hohes Wertschöpfungspotenzial
Die deutlichen Fortschritte der Quantentechnologien in den letzten Jahren sehen auch die Marktforscher von McKinsey. Quantentechnologien rücken demnach immer näher in die Position, Probleme zu lösen, die mit herkömmlichen Technologien nicht oder nur unter großem finanziellen Aufwand zu lösen wären. Das schlägt sich in den wirtschaftlichen Prognosen nieder. So prognostiziert der „McKinsey Quantum Technology Monitor 2023“ für die Automobil-, Chemie-, Finanz- und Biowissenschaftsbranche durch den Einsatz von Quantencomputing bis zum Jahr 2035 ein Wertschöpfungspotenzial von bis zu 1,3 Billionen US-Dollar. Den größten ökonomischen Effekt erwarten die Analysten bei Anwendungsfällen in der Finanzbranche.
Auch aus Sicht von IDC ist die Zeit, in der Quantencomputer die Experimentierphase und damit die Labore verlassen, deutlich näher gerückt. „Es gab viel Hype um Quantencomputing und darum, wann Quantencomputing einen Vorteil bieten kann und für welche Anwendungsfälle“, erzählt Heather West, Forschungsmanagerin in der Enterprise Infrastructure Practice von IDC. „Die heutigen Quantencomputersysteme sind zwar möglicherweise nur für Experimente im kleinen Maßstab geeignet, aber mit der Zeit werden Fortschritte erzielt. Organisationen sollten sich nicht davon abhalten lassen, jetzt in Quanteninitiativen zu investieren, um in Zukunft für Quantentechnologien bereit zu sein.“
„Die heutigen Quantencomputersysteme sind möglicherweise nur für Experimente im kleinen Maßstab geeignet (...). Organisationen sollten sich nicht davon abhalten lassen, jetzt in Quanteninitiativen zu investieren“
Kommerzielle Anwendungen kommen
Dass die Marktplayer daran arbeiten, die Technologie in kommerzielle Anwendungen zu überführen, zeigt das Beispiel der Deutsche Telekom, die jüngst bei ihren T-Labs in Berlin ein sogenanntes „Quantum Lab“ eröffnet hat. Dabei geht es ausdrücklich nicht um reine Forschung. Das Quantum Lab ist vielmehr der Integration der Quantentechnologie in kommerzielle Telekommunikationsnetze gewidmet.
„Die Eröffnung unseres Quantum Lab ist ein klares Signal, dass wir es ernst meinen mit der Überführung der Quantentechnologie in die kommerziellen Netze der Telekommunikationsanbieter“, erklärt Claudia Nemat, Vorstand Technologie und Innovation der Deutschen Telekom. Es gehe darum zu beweisen, dass innovative Quantentechnologie-Lösungen unter realen Bedingungen funktionieren, und eine neue Ära der Kommunikationsdienste einzuläuten.
„Die Eröffnung unseres Quantum Lab ist ein klares Signal, dass wir es ernst meinen mit der Überführung der Quantentechnologie in die kommerziellen Netze der Telekommunikationsanbieter“
Ebenfalls im Jahr 2023 gab T-Systems den Start ihres Quantum-as-a-Service-Angebots bekannt. Als Teil des IBM Quantum Network bietet T-Systems damit seinen Kunden einen Cloud-Zugang zu IBM-Quantencomputern. „Unternehmen auf der ganzen Welt beginnen zu erforschen, wie sich Quantencomputing auf ihre Branche und ihr Geschäft auswirken wird. Durch die Partnerschaft mit T-Systems als Cloud-Anbieter können wir einem noch breiteren Ökosystem den Zugang zur Quantentechnologie ermöglichen“, ordnet Scott Crowder, Vice President, IBM Quantum Adoption and Business Development, diese Kooperation ein..
Bereiche, die durch Quantencomputing optimiert werden könnten, haben laut IBM eine hohe Praxisrelevanz für Unternehmen: Telekommunikationsunternehmen könnten damit ihre Netzwerkinfrastruktur modernisieren, Gesundheitsdienstleister die Behandlung ihrer Patienten optimieren, Finanzdienstleistungsunternehmen ihre Risikooptimierung verbessern.
Das IBM Institute for Business Value gibt Hinweise für eine Quantenstrategie und nennt Anwendungsbereiche für Unternehmen (Bild: IBM).
Die Cloud erleichtert den Zugang
Unternehmen, die einen einfachen Einstieg in Quantencomputing suchen, finden den notwendigen Zugang in der Cloud, denn die großen Cloud-Provider wie Microsoft Azure und Amazon Web Services haben entsprechende Cloud-Services bereits im Programm: Azure Quantum und Amazon Braket.
Azure Quantum Elements integriert drei Technologien: High Performance Computing (HPC), künstliche Intelligenz und Quantencomputing. Die schnelle Rechenleistung der integrierten Systeme erweitert laut Microsoft den Suchraum für neue Materialien und Kombinationen von einigen Tausend auf mehrere zehn Millionen Kombinationsmöglichkeiten. So lasse sich über Azure Quantum Elements zum Beispiel die Simulation chemischer Prozesse und Reaktionen um den Faktor 500.000 beschleunigen. Entsprechend sollen sich Daten in nur einer Minute auswerten lassen, für die man früher ein ganzes Jahr rechnen musste.
Das Chemieunternehmen BASF will Azure Quantum Elements für anspruchsvolle Berechnungen als Ergänzung zum eigenen Supercomputer Quriosity nutzen. „Um Produkte und Prozesse verbessern zu können, muss man die Chemie dahinter auf mikroskopischer Ebene verstehen“, erläutert dazu Ansgar Schäfer, Vice President bei BASF und Leiter der Quantenchemieforschung des Unternehmens. „Und je komplexer die Herausforderung ist, desto mehr Rechenleistung wird benötigt. Azure Quantum Elements ist ein Werkzeug, das uns diese zusätzlich benötigte Rechenleistung bietet, um völlig neue Forschungsansätze voranzutreiben und die Effizienz und Geschwindigkeit der Entwicklung zu erhöhen.“
BASF-Chemikerin Dr. Fangfang Chu (links) und Molekularsimulationsexperte Dr. Eduard Schreiner diskutieren die Computersimulation von Mikrokapseln, die die Wirkstoffe von Produkten wie Vitaminen umschließen und schützen. Die BASF nutzt Azure Quantum Elements, um die Geschwindigkeit und Effizienz der Entwicklung zu erhöhen (Quelle: BASF SE).
Security: Wenn Cyber auf Qubits trifft
Wenn von Quantencomputern die Rede ist, kommt häufig sehr schnell ein besonderer Aspekt mit ins Spiel: die Gefährdung traditioneller Sicherheitslösungen. Pascal Brier etwa, Chief Innovation Officer bei Capgemini und Mitglied des Group Executive Committee, beobachtet derzeit ein Cyber-Wettrüsten und fordert, dass die Fortschritte in der Rechenleistung mit digitalen Verteidigungsmechanismen einhergehen müssten. Auf der einen Seite würden KI und maschinelles Lernen (ML) zunehmend dafür eingesetzt, Bedrohungen zu erkennen, und das Zero-Trust-Modell habe das Potenzial zu einem globalen Standard. Zugleich würden Fortschritte im Quantencomputing aber derzeitige Verschlüsselungsstandards wie RSA und ECC obsolet machen. Brier warnt deshalb: „Das macht die Entwicklung quantenresistenter Algorithmen dringend notwendig, um Datenschutz und Datensicherheit auch in Zukunft zu gewährleisten."
2024 kann für die Quantentechnologie auch beim Thema Sicherheit ein wichtiges Jahr werden. So wird in den USA das National Institute of Standards and Technology (NIST) den Standard für die sogenannte Post-Quantum-Kryptographie (PQC) veröffentlichen, das heißt, Verschlüsselungsalgorithmen, die gegen Quantenangriffe resistent sein sollen. Der Quantum Computing Cybersecurity Preparedness Act schreibt bereits vor, dass öffentliche und private Organisationen, welche die US-Regierung beliefern, innerhalb eines Jahres nach Veröffentlichung der NIST-Standards auf PQC umstellen müssen. Nicht nur in den USA, sondern weltweit könnte damit die Grundlage von Cybersicherheitsstandards auf den Kopf gestellt werden. Daher werde dieses Thema in 2024 zwangsläufig in den Vorstandsetagen auf der Tagesordnung stehen, prognostiziert Pascal Brier.
„Das macht die Entwicklung quantenresistenter Algorithmen dringend notwendig, um Datenschutz und Datensicherheit auch in Zukunft zu gewährleisten.“
Der nächste Schritt: Quanten-KI
Wenn ein Unternehmen sich daran macht, eine eigene Quantenstrategie zu entwickeln, sollte es nicht nur die Technologien Cloud und Quantencomputing as a Service berücksichtigen. Auch Künstliche Intelligenz (KI) wird in dieser Entwicklung eine zentrale Rolle spielen. Quanten-KI stellt den nächsten großen Fortschritt in der KI-Entwicklung dar, meint zum Beispiel das Analystenhaus GlobalData. Adarsh Jain, Director of Financial Markets bei GlobalData, begründet diese Einschätzung so: „Wenn wir Quantenprinzipien in KI-Algorithmen integrieren, wächst das Potenzial für Geschwindigkeit und Effizienz bei der Verarbeitung komplexer Datensätze exponentiell. Dies verbessert nicht nur die aktuellen KI-Anwendungen, sondern eröffnet auch neue Möglichkeiten in verschiedenen Branchen.“
„Wenn wir Quantenprinzipien in KI-Algorithmen integrieren, wächst das Potenzial für Geschwindigkeit und Effizienz bei der Verarbeitung komplexer Datensätze exponentiell.“
Eine Analyse des Disruptor Intelligence Center von GlobalData unterstreicht die Synergie zwischen Quantencomputing und KI-Innovationen für verschiedene Branchen. Zu den wichtigsten Entwicklungen zählen demnach die Zusammenarbeit von HSBC und IBM im Finanzbereich, die Fortschritte von Menten AI im Gesundheitswesen, die Partnerschaft von Volkswagen mit Xanadu zur Batteriesimulation, das Quantum SDK von Intel und die Zusammenarbeit von Zapata mit BMW.
Offensichtlich hilft die Cloud der weiteren Verbreitung von Quantencomputing und die Quantencomputer helfen der KI bei der Steigerung der verfügbaren Rechenleistung. Hier zeigt sich eindrucksvoll, wie verschiedene Digitaltechnologien zusammenwirken können und wie wichtig Unternehmensstrategien sind, die solche Synergien in der digitalen Transformation nutzen. Eine Quantenstrategie ist ein wichtiger Teil davon und sollte in vielen Branchen nicht mehr fehlen. Denn: Quantencomputing ist gerade dabei, in der Praxis anzukommen.
Stand heute gilt allerdings noch: Trotz der großen Fortschritte steht der endgültige Durchbruch bevor. Auf jeden Fall sind noch große Investitionen von Staaten und Unternehmen dafür notwendig. Ob alle Beteiligten in Zeiten multipler Krisen und vielfältig strapazierter Kassen die nötigen Mittel aufbringen, ist offen. Die Bundesregierung hat zwar im Frühjahr 2023 eine Quantenstrategie vorgelegt, mit der Deutschland bei dieser Zukunftstechnologie an die Weltspitze kommen soll. Sie will bis 2026 drei Milliarden Euro ausgeben, damit es dann einen leistungsfähigen Quantencomputer in Deutschland gibt. Bitkom-Expertin Natalia Stolyarchuk aber warnt: „Trotz beträchtlicher Förderungen in Deutschland und Europa besteht die Gefahr, dass Investitionen zurückgehen und der Fortschritt stagniert, wenn der wirtschaftliche Nutzen des Quantencomputing in den kommenden Jahren nicht nachgewiesen wird.“
„Trotz beträchtlicher Förderungen in Deutschland und Europa besteht die Gefahr, dass Investitionen zurückgehen und der Fortschritt stagniert, wenn der wirtschaftliche Nutzen des Quantencomputing in den kommenden Jahren nicht nachgewiesen wird.“